Montag, 15. Oktober 2012

Gentrifizierung in Köln-Kalk

Im Onlinearchiv der StadtRevue, dem Kölner Monatsmagazin, befindet sich ein sehr lesenswerter Artikel mit dem Titel
"Bionaden-Bourgeoisie und Food-Coop", geschrieben von Anja Albert, Christian Steigels und Bernd Wilberg.
Die Thematik Gentrifizierung war mir persönlich bisher nur aus Medienbeiträgen zum Thema kreuzbergneuköllnehrenfeldbuxtehudeetc und höchst oberflächlich aus dem Studium bekannt.
Die beschriebenen "Hipster" (wer erfindet diese Worte?), die sich im Zuge der Segregation, in von Lokalpolitik und Öffentlichkeit jahrelang vernachlässigten und heruntergekommen Stadtteile einfinden, vermeine ich in der Kölner Innenstadt fast überall zu sehen. Am Rudolfplatz ausgestiegen und die Ehrenstrasse entlang flaniert, befinde ich mich nach kürzester Zeit inmitten zahlloser junger und jungebleibener Menschen in umgekrempelten Jeans (damit man die 250€- Sneaker auch in Gänze erkennt), mit auf alt gemachten Retrotaschen, Jutebeuteln mit (un)lustigen Wortspielen und Mottos. Wahlweise wird ein furchtbar stylisches Singlespeed oder ein altes, abgenutztes Hollandrad neben sich her geschoben. Beide Fahrräder eint, dass ihre Besitzer höchstwahrscheinlich den Sattel beim Händler einstellen lassen und die Jahresfahrleistung (aufgrund der namentlichen und geographischen Nähe von Ehrenfeld und der Ehrenstrasse) bei geschätzten 500km liegt. Man kann die Selbstdarstellung und den Hedonismus förmlich riechen!
Gesehen und gesehen werden, alle sind so individuell und alternativ, dass fast nur noch der Helm fehlt. Die Uniform ist schon da. Der Unterschied hier ist nur: Es gibt nichts zu gentrifizieren. Woanders dafür aber eine ganze Menge. Was in Ehrenfeld ja schon typisches Ortsbild ist, soll also jetzt auch auf Kalk zurollen bzw. schon da sein. Alternative Szenekneipen, individuelle Bekleidungsgeschäfte, Leute, die irgendetwas mit Kreativmedien machen oder mit einer alten russischen Kamera verranzte Gebäude fotografieren undundund
Aber Kalk: Anlässlich des FVM-Pokalspiels zwischen Viktoria Köln und dem SV Bergisch-Gladbach 09 (ein zähes Match, welches Viktoria nach einem dramatischen Elfmeterschiessen als Sieger für sich entschied) begab ich mich nach fast 5 Jahren im Rheinland nach Kalk bzw. später nach Höhenberg.
Über "Voll-Normaaal"-Humor habe ich seit der 7b nicht mehr gelacht, also war Kalk fast ausschließlich durch diesen Artikel in der StadtRevue, den ich einige Tage vorher gelesen habe präsent. Achja, und der Mordfall vor ein paar Wochen.
Ansonsten hatte ich einen völlig neutralen Eindruck von diesem Stadtteil, es gibt in Deutschland schönere, aber auch deutlich miesere Gegenden. Aber als ich dann auf der Kalker Hauptstrasse tatsächlich eine kleine Gruppe amerikanisches Englisch sprechende Menschen sah und hörte, die, jedes Klischee bedienend, Kleidungstil s.o., mit Analogkameras Strassenzüge fotografierten und darüber schwadronierten, noch kurz zum Kodi zu gehen sich dann bei dem und dem zu treffen, hatte ich offensichtlich meine erste Begegnung mit den Leuten, über die z.B. hier diskutiert wird.
Es hätte keinen größeren Kontrast zwischen dem, was dieser Stadtteil ausstrahlt und präsentiert und diesen Menschen geben können. Die pöbelnden Anhänger von Viktoria Köln, die in breitestem kölschen Idiom den Trainer von Bergisch-Gladbach beschimpften, befinden sich im Kontext der sozialen Lebenswelt Lichtjahre von den stylischen Amerikanern entfernt. Möglicherweise wohnen sie nur drei Strassen voneinander entfernt.
Das ist also Gentrifizierung? Werden Anwohner bald zum Wegzug genötigt, weil Yuppies (80er Rhetorik kommt wieder!) in überteuerte Lofts ziehen, die in oder auf ihren ehemaligen Arbeitsstätten von geldgeilen Investoren hochgezogen wurden? Muss Schlechtrimen einem Starbucks weichen?
Es mag ironisch klingen, aber Stadtteile wie Kalk (und nicht nur der) brauchen diese Leute und diese Entwicklung, zumindest in Teilen und unter anderen Voraussetzungen. Nein, niemand braucht einen Starbucks, wirklich nicht.
Viertel mit hoher Kinderarmut und Arbeitslosigkeit brauchen Kreativität und Tatkraft, Aufbruchstimmung und neuen Ideen. Denn was bisher aus vormals benachteiligten Stadtteilen gemacht wurde, geschah eher aus Eigennutz, schlimmer noch zum Selbstzweck. Klar machen irgendwann hippe Cafés auf, weil das neue Publikum diese nachfragt. Aber muss dieser Prozess immer so ablaufen?
Warum geht den Menschen, die neue Räume für sich entdecken und gestalten wollen, der Charakter und die schlichte Realität dieses Raumes so ab? Anstatt rumzurennen und den jämmerlichen Zustand der Infrastruktur als Gegenstand seines Szene-Blogs oder einer Foto-Ausstellung zu sehen, könnte man stattdessen rumlaufen und Menschen mit Migrationshintergrund und schlechten Deutschkenntnissen einsammeln. Die nimmt man dann mit in die trashigen Lagerhallen und gibt ihnen dort kostenlos, in locker-ungezwungener Atmosphäre und völlig ohne Gegenleistung Nachhilfe in Deutsch, anstatt sie durch die Zur-Schau-Stellung des eigenen, hedonistischen Lebensstils zu frustrieren. Die szenigen Fotos aus den Metropolen dieser Welt kann man auch im örtlichen Altenheim zeigen. Und wenn man sich mal trauen würde, selbst Hand an sein 800€-Fixie zu legen, gibt es bestimmt einen Haufen Kinder, die auch gerne mal lernen würden, wie sie ihr Fahrrad selbst reparieren.
Das ist keine Sozialromantik, das ist Potenzial, was vor Ort bereits existiert. Wenn man sich dann noch mit dem schlichten, einfachen Kaffee des lokalen Bäckers zufrieden gibt, dann....

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